Der Agile Albtraum des Paul M.
Paul war überzeugt: Diesmal wird alles anders. Kein starres Gant-Chart, keine endlosen Excel-Tabellen, keine Wasserfall-Logik von gestern. Sein PMI-Projekt – ein mittelgroßer, aber politisch heikler Merger – wird agil. Mit Daily Stand-ups, Backlog Groomings und natürlich: Re-priorisierungen „on the fly“. Paul las gerade Scrum für Dummies, als das erste Thema kippte.
Die Integration des Vertriebsteams, eigentlich „Top Priority“, wurde vertagt – „weil Finance gerade lauter schreit“. Zwei Wochen später verschob HR den Onboarding-Prozess, „weil das Target-System noch nicht angebunden ist“. Und als Paul in Sprint 3 feststellte, dass keines der Teams mehr wusste, woran das andere arbeitet, beschloss er, die Retrospektive zur Krisensitzung umzuwidmen.
Das Einzige, was sich regelmäßig bewegte, war die Prioritätenliste. Dafür blieb die Timeline konstant: verspätet. Paul lächelte tapfer durch das tägliche Chaos, klammerte sich an agile Manifeste – und wünschte sich insgeheim nichts sehnlicher als einen ehrlichen, altmodischen Projektplan. Mit Meilensteinen, Deadlines und bitte, bitte: Klarheit darüber, wer wann was zu tun hat.
Agil ist gut. Aber vielleicht nicht hier? Nicht jetzt? Nicht so?
Agile Projektprinzipien – jenseits von Post-Its und Stand-ups
Agile Projektprinzipien und insbesondere Frameworks wie Scrum sind keine bloßen Werkzeuge oder Methoden. Sie sind Denkmodelle. Ihre Grundlagen bilden unter anderem die drei Säulen kontinuierlicher Verbesserung: Transparenz, Überprüfung und Anpassung; das Agile Manifest, die zwölf agilen Prinzipien sowie die fünf Scrum-Werte: Engagement, Fokus, Offenheit, Respekt und Mut.
Diese Prinzipien und Werte bilden einen flexiblen Rahmen, wie (Software-Entwicklungs-)Projekte umgesetzt werden können. Dahinter stehen zwei zentrale Ideen. Iterativ-inkrementelles Vorgehen, um Veränderungen und externe Einflüsse besser aufgreifen zu können, und Fokus auf den Kundennutzen, um Ergebnisse mit dem höchsten Mehrwert zu liefern.
Zum agilen Rahmen gehören unter anderem die Rollen Product Owner und Scrum Master, die Artefakte Product Backlog und Sprint Backlog sowie die Ereignisse Sprint, Daily Scrum, Sprint Review und Sprint Retrospective. Die ursprünglich aus der Software-Entwicklung stammenden Konzepte dürfen jedoch nicht einfach unverändert übernommen werden. Sie benötigen eine Übersetzung in die Welt von Mergers & Acquisitions und Post Merger Integration.
Integration Backlog – Was wirklich zählt
Was soll erreicht werden? Diese zentrale Frage wird in der Softwareentwicklung meist über den Kundennutzen beantwortet. Doch wer ist bei einer Post Merger Integration eigentlich der Kunde?
Bei einem so komplexen Vorhaben wie einer Post Merger Integration gibt es nicht nur viele, sondern auch sehr unterschiedliche Kundengruppen. Um die Begriffsverwirrung zu vermeiden, sprechen wir besser von Stakeholdern. Zu diesen zählen die üblichen Verdächtigen: Eigentümer, Mitarbeitende beider Unternehmen (einschließlich Geschäftsführung oder Vorstand), (Regulierungs-)Behörden wie etwa Finanzämter, Lieferanten, Finanzierer und nicht zuletzt die „echten“ Kundinnen und Kunden der Unternehmen.
Das sind in der Tat viele, und genau das erklärt, warum eine Post Merger Integration als so komplex gilt. Unterschiedliche Stakeholder bringen unterschiedliche Bedürfnisse mit, die berücksichtigt werden müssen. Der Integration Backlog füllt sich entsprechend schnell mit vielfältigen Zielen aus dem Bereich Housekeeping, aber auch mit den dealspezifischen Zielen der Value Creation.
Der Integration Backlog enthält nicht die einzelnen Arbeitsschritte. Stattdessen führt er Ziele auf, die erreicht werden sollen. Ziele, die sich klar aus den Bedürfnissen der Stakeholder ableiten lassen. Folgt man einer Priorisierung dieser Bedürfnisse, können auch die Einträge im Integration Backlog entsprechend priorisiert werden.
Diese Priorisierung orientiert sich in der Regel an vorgegebenen Meilensteinen, etwa Berichtspflichten, Messeauftritten oder den Zielen aus der Deal-Story. Und: Diese Priorisierung ist nicht allgemeingültig, sondern immer situations- und akquisitionsspezifisch.
Schon am Day One enthält der Integration Backlog eine Vielzahl an „Must-Dos“. Die gute Nachricht, sie müssen nicht alle sofort erledigt werden. In vielen Fällen hat sich eine Einteilung nach der Logik First 10 Days, First 30 Days, First 100 Days, Beyond 100 Days bewährt, um schnell zu clustern und den Fokus auf die Umsetzung zu richten.
Der Integration Backlog ist kein statisches Dokument. Das entspricht einem der Grundprinzipien agiler Projektarbeit. Elemente können im Verlauf des Projekts ergänzt, entfernt oder neu priorisiert werden. Auch die ursprüngliche Gewichtung kann sich mit der Zeit verändern. Der Vorteil dieses Denkmodells für die komplexe Post Merger Integration: Man kann schnell starten und direkt in die Umsetzung gehen – ohne zuvor alles bis ins kleinste Detail durchgeplant haben zu müssen.
Integration Sprint – Oder ist es ein Marathon?
Die klassische Post Merger Integration gleicht eher einem Marathon als einem Kurzstreckenlauf. Bis eine Integration vollständig abgeschlossen ist, vergehen nicht selten 18 Monate oder mehr. Vielleicht sollte man die Post Merger Integration sogar mit einem Ultralauf vergleichen, mit Distanzen von 100 Kilometern und mehr.
Die Idee, in kurzen Abständen Ergebnisse zu erzielen und kleine Erfolge feiern zu können, ist nur eine der Überlegungen hinter dem Konzept des Integration Sprints – aber im Hinblick auf das Prinzip „Zusammenwachsen durch zusammen wachsen“ eine besonders zentrale. Denn so werden erste Früchte der gemeinsamen Arbeit bereits nach kurzer Zeit sichtbar und nicht erst nach vielen Monaten. Die Menschen und Organisationen wachsen so Schritt für Schritt ein Stück weiter zusammen.
Ein Integration Sprint dauert in der Regel zwei bis vier Wochen. Die exakte Dauer wird jeweils im Vorfeld festgelegt. Und genau hier zeigt sich ein weiterer Vorteil des Ansatzes. Dieser überschaubare Zeitraum lässt sich viel einfacher und verlässlicher planen. Eine vollständige Planung über sechs, neun oder gar zwölf Monate hinweg ist hingegen wesentlich aufwändiger und deutlich ungenauer. Auch der Einsatz verfügbarer – insbesondere interner – Ressourcen lässt sich innerhalb dieses kurzen Rahmens besser einschätzen und effizienter steuern.
Auf diese Weise kommt man schneller in die gemeinsame Aktivität. Durch die hohe kurzfristige Planungssicherheit entstehen weniger Abweichungen vom Plan, was wiederum die Zufriedenheit im Integrationsteam erhöht. Und wieder wächst man wächst ein Stück weiter zusammen.
Während eines Integration Sprints können sich die Teammitglieder voll und ganz auf die anstehenden Themen und konkreten Ergebnisse konzentrieren. Anforderungen und Prioritäten bleiben während dieser Phase konstant. Und dank der Kürze des Sprints können neue Priorisierungen bis zum nächsten Sprint warten, ohne in die laufenden Aktivitäten einzugreifen.
Zentrale Elemente eines Integration Sprints sind der Integration Review und die Integration Retrospective am Ende des jeweiligen Sprints sowie das Integration Daily, das wie der Name schon sagt täglich stattfindet.
Integration Review – Mehr als Abhaken
Transparenz und Feedback sind zentrale Prinzipien agiler Projekte. Im Integration Review werden sie systematisch verankert. Am Ende jedes Sprints berichten die Teammitglieder, was sie erreicht haben. Der PMI Owner und die Stakeholder geben Rückmeldung zu den präsentierten Ergebnissen.
Auf diese Weise werden die „Kundinnen und Kunden“ der Integration regelmäßig eingebunden und bleiben über die aktuellen Themen und Fortschritte informiert. Das Integrationsteam erhält wertvolle Hinweise darauf, ob die Integration in die richtige Richtung verläuft, ob die erreichten Ergebnisse den Erwartungen der Stakeholder entsprechen und ob womöglich zu weit oder nicht weit genug integriert wurde.
Alle Beteiligten bleiben durch die hohe Frequenz der Integration Reviews kontinuierlich in den Integrationsprozess eingebunden. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Ergebnissen verhindert ein reines Task-Tracking – eine typische Falle klassischer Großprojekte, bei der lediglich das Abarbeiten von Aufgaben im Vordergrund steht, ohne die Ergebnisse inhaltlich zu hinterfragen. Im Integration Review werden zudem neue oder zusätzliche Anforderungen identifiziert und bei Bedarf direkt in den Integration Backlog aufgenommen.
Integration Retrospective – Internal Only
Neben dem „externen“ Format des Integration Review ist die Integration Retrospective eine „interne“ Veranstaltung. Sie richtet sich ausschließlich an das Integrationsteam und findet ebenfalls am Ende jedes Sprints statt. Vereinfacht gesagt werden dabei zwei zentrale Fragen reflektiert. Was ist im aktuellen Sprint gut gelaufen? Und was sollte im nächsten verbessert werden?
Dabei geht es nicht um die Arbeitsergebnisse, sondern um die Zusammenarbeit im Team. Im Fokus stehen der Umgang miteinander, die Kommunikation sowie die Zusammenarbeit innerhalb des Integrationsteams. Eine weitere wichtige Dimension der Retrospective ist die Interaktion mit Stakeholdern und anderen Personen außerhalb des Teams. Hatte das Integrationsteam ausreichend Gelegenheit, sich auf die relevanten Themen zu konzentrieren oder war es zu sehr durch äußere Einflüsse abgelenkt?
Gerade hier sind der Integration Master und der PMI Owner gefragt. Sie tragen die Verantwortung dafür, den nötigen Rahmen zu schaffen, damit das Team effektiv arbeiten kann.
Die Integration Retrospective dient nicht nur der operativen Verbesserung der Projektarbeit, sie fördert auch das kulturelle Verständnis zwischen den beteiligten Organisationen. Denn wenn offen über die Zusammenarbeit gesprochen wird, treten kulturelle Unterschiede ganz automatisch zutage. Durch die regelmäßige Auseinandersetzung damit, und die gemeinsame Überlegung, wie man mit diesen Unterschieden umgehen will, entsteht kulturelle Integration quasi als Nebenprodukt.
Integration Daily – Jeden Tag!
Bleibt noch das zentrales Element Integration Daily. Wie der Name schon sagt, findet es täglich statt. Es handelt sich dabei um ein kurzes Koordinationstreffen der Mitglieder des Integrationsteams. Ziel ist es, Transparenz zu schaffen. Alle wissen, woran die anderen aktuell arbeiten. Abhängigkeiten werden aufgedeckt und geklärt, Hindernisse identifiziert und es kann gezielt um Unterstützung gebeten werden.
Gerade in der Frühphase der Integration, zur Vorbereitung auf den Day One und in den ersten Tagen danach empfiehlt sich die tägliche Durchführung des Integration Daily ausdrücklich. In dieser Phase treten immer ungeplante oder unvorhergesehene Herausforderungen auf, sodass diese kurze Abstimmung einen spürbaren Effektivitätsgewinn bringt.
Im weiteren Verlauf des Projekts kann die Frequenz des Integration Daily angepasst werden, etwa auf zwei- bis dreimal pro Woche oder, bei entsprechend geringerem Abstimmungsbedarf, auf ein Integration Weekly. Besonders nach den ersten 100 Tagen, wenn die Teammitglieder nicht mehr überwiegend in die Integrationsarbeit eingebunden sind, sollte der Rhythmus des Daily Meetings dem jeweiligen Projektverlauf sinnvoll angepasst werden.
PMI Owner – Einer für Alle
Jede Integration braucht jemanden, der ihren Wert (er)kennt und Verantwortung für ihren Erfolg übernimmt. Das ist die Rolle des PMI Owners. Häufig werden für diese Funktion operativ verantwortliche Geschäftsführer oder Vorstandsmitglieder als Projektleitung der Post Merger Integration benannt. Das ist möglich, in der Praxis jedoch stoßen wir regelmäßig an die Grenzen dieses Ansatzes.
In der agilen Welt ist der Product Owner – in unserem Fall der PMI Owner – die Person, die die geschäftliche Perspektive des Projekts im Blick behält. Im Kontext einer Post Merger Integration bedeutet das: die Integration in die Unternehmensstrategie und Akquisitionsziele zu übersetzen und umgekehrt. Der PMI Owner stellt also die Verbindung zwischen den Integrationsaktivitäten und der übergeordneten strategischen Vision der Akquisition her.
Dementsprechend ist der PMI Owner auch verantwortlich für die Priorisierung des Integration Backlogs und für die Festlegung der Sprint-Ziele. Diese orientieren sich an strategischen Vorgaben, Akquisitionszielen sowie externen Meilensteinen, etwa Berichtspflichten oder regulatorischen Fristen.
Während eines Sprints steht der PMI Owner dem Integrationsteam als Sparringspartner zur Seite, um offene Fragen schnell zu klären. Das hat den Vorteil, dass das Team nicht auf Feedback aus Steering Committees oder andere Eskalationsrunden warten muss. Der Sprint bleibt dadurch fokussiert und effizient.
Das setzt allerdings voraus, dass der PMI Owner ständig für das Integrationsteam verfügbar ist. Und genau hier zeigt sich ein Zielkonflikt, die operativ verantwortlichen Geschäftsführer sind immer stark in das Tagesgeschäft eingebunden, so dass ihre kontinuierliche Verfügbarkeit für die Integration unmöglich ist. Deshalb greift die Idee, diese Führungspersonen als PMI Owner einzusetzen, in der Praxis häufig zu kurz.
Integration Master – Die echten PMI Expertinnen und Experten
Neben dem PMI Owner, der die Verbindung zur Unternehmensstrategie und zu den Akquisitionszielen hält, sind der oder die Integration Master die zentrale Fachpersonen für die Post Merger Integration. Sie wissen genau, wie Zusammenwachsen gelingt und welche Housekeeping-Themen typischerweise zu bearbeiten sind.
Integration Master sind Möglichmacher, Transformationsagenten, Moderatorinnen und Moderatoren – und mitunter auch Mediatorinnen oder Mediatoren. Sie vernetzen die verschiedenen Workstreams, beseitigen Blockaden innerhalb der Teams und sorgen für reibungslose Zusammenarbeit über Teamgrenzen hinweg. Während der PMI Owner vor allem die „Außenwelt“ außerhalb des Integrationsteams im Blick hat, sind die Integration Master innerhalb des Teams aktiv, als treibende Kraft und operative Unterstützung.
Nicht zuletzt spielen sie eine zentrale Rolle bei der kulturellen Integration. Ihre Erfahrung aus zahlreichen Post Merger Integration Projekten und anderen Transformationen macht sie zu Schlüsselfiguren, wenn es darum geht, unterschiedliche Unternehmenskulturen zusammenzuführen.
Agil in der Post Merger Integration?
Ja – aber sinnvoll. Nicht, weil es gerade „hip“ ist. Agilität ist kein Allheilmittel. Doch gerade bei Projekten vom Kaliber eines Ultralaufs, wie es eine Post Merger Integration häufig ist, hilft das Sprint-Prinzip, den Fokus zu bewahren und die verfügbaren Ressourcen gezielt einzusetzen.
Überträgt man die Werte des Agilen Manifests auf die Post Merger Integration, ergibt sich folgendes Bild.
Individuen und ihre Interaktion stehen über Prozessen und Werkzeugen. Genau das fördert das Zusammenwachsen der Menschen beider Organisationen. Alte Grenzen werden überwunden – eine neue, gemeinsame Organisation entsteht.
Funktionierende Organisation steht über umfangreicher Prozessdokumentation. Der Fokus liegt auf echter Zusammenarbeit und Funktionalität innerhalb einer (neuen) Organisation, nicht auf Schein und Schattenprozessen.
Zusammenspiel mit der Unternehmensstrategie und den Akquisitionszielen steht über der reinen Erstellung von Projektplänen. Die Integration wird nicht zum Selbstzweck durchgeführt, sondern ist die Basis für die Erreichung der Akquisitionsziele.
Reagieren auf Veränderungen steht über dem strikten Befolgen eines Plans. Ziel ist eine resiliente und nachhaltige neue Organisation, die nicht nur die geplanten Ziele erreicht, sondern sich darüber hinaus weiterentwickeln kann.
Die formalen agilen Elemente – von der klaren Zielsetzung im Sprint über das tägliche Integration Daily bis hin zu Integration Review und Integration Retrospective – schaffen einen verbindlichen Rahmen, der zugleich Raum für Fokus und Konzentration ermöglicht. PMI Owner und Integration Master stellen sicher, dass dieser Rahmen eingehalten wird und wirksam bleibt.