Parallele Integration – Hilfe bei Fusionitis

Warten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag

„Jetzt starten wir noch nicht mit der Integration. Es stehen noch weitere Add-ons in der Pipeline. In zwei Monaten wissen wir mehr.“ – So oder so ähnlich klingt es derzeit bei vielen CEOs, die auf eine Buy-&-Build-Strategie setzen.

Zwar wurden bereits einige Add-ons akquiriert, doch weitere Übernahmen stehen noch aus. Wenn man jetzt mit der Integration beginnt – wie geht man dann mit den nächsten Akquisitionen um? Die erste Integration ist noch nicht abgeschlossen, und schon steht das nächste Closing bevor.

Eine Möglichkeit wäre, die neue Akquisition parallel in den laufenden Integrationsprozess einzubinden. Oder man lässt das Unternehmen erst einmal in der Warteschleife kreisen. Doch wer früh startet, kann die Impulse künftiger Übernahmen noch gar nicht in den Prozess einfließen lassen.

„Jetzt zu starten, macht ja keinen Sinn.“ Oder? Am Ende wartet man dann doch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.

Es ist keine Seltenheit

Buy-&-Build-Strategien sind heute fester Bestandteil vieler Private-Equity-Investments. Kein Wunder – die low-hanging fruits hängen hier besonders tief. Gemeint ist damit jedoch nicht die klassische Multiple-Arbitrage, die früher fast automatisch eintrat: Größeres Unternehmen, höheres Multiple.

Ein sich selbst verstärkender Effekt, der fast wie ein Perpetuum mobile oder ein Taschenspielertrick wirkte. Heute reicht das allein nicht mehr. Um das Multiple zu steigern, braucht es heute eine echte Integration – das Ausschöpfen von Synergien innerhalb der wachsenden Organisation. Ohne gezielten Einsatz von Ressourcen bleibt der gewünschte Effekt aus. Doch trotz des zusätzlichen Aufwands lohnt sich die Investition.

Damit stellt sich die entscheidende Frage: Wann sollte die Integration starten? Und wenn regelmäßig neue Unternehmen hinzukommen – wie lassen sie sich in einen noch laufenden Integrationsprozess einbinden?

Doch nicht nur Buy-&-Build-Strategien führen zu mehrfachen Akquisitionen. Auch klassische Wachstumsstrategien setzen heute sowohl auf organisches als auch anorganisches Wachstum – etwa durch Add-ons, also den Zukauf passender Unternehmen. Und das sind oft mehr als nur eins oder zwei.

Selbst Unternehmen, die keinen aktiven Expansionskurs verfolgen, stehen vor dieser Herausforderung. Die demografische Entwicklung sorgt für zahlreiche Nachfolgegelegenheiten, die sich kaum ignorieren lassen. Wer nicht zugreift, riskiert, dass ein Wettbewerber die Chance nutzt – und sich so einen entscheidenden Vorteil sichert.

Und plötzlich hat man in kürzester Zeit mehrere Unternehmen übernommen – und steht erneut vor der Frage: Wann beginnt die Integration?

Muss man wählen: Pest oder Cholera?

Die Situation ist klar: Die erste Integration läuft bereits, und ein weiteres Target kommt hinzu. Grundsätzlich gibt es zwei Optionen: Entweder wird das neue Unternehmen direkt in den laufenden Integrationsprozess eingebunden, oder die laufende Integration wird erst abgeschlossen, während das neue Target vorerst in der Warteschleife bleibt – bis es in einem zweiten Schritt integriert wird.

So weit, so schwierig. Die parallele Integration erhöht das Tempo, birgt jedoch das Risiko, die Stabilität im Prozess zu gefährden.

Ein kritischer Punkt kann zum Beispiel die Unternehmenskultur sein. Schon beim ersten Target gab es erhebliche Unterschiede zum Käufer: „Wir duzen uns.“ gegenüber „Wir nicht.“ Nun kommt ein dritter Player hinzu – mit einer völlig anderen Kultur. Beim dritten in der Runde stehen klare Verantwortlichkeiten und Hierarchien im Fokus, unabhängig davon, ob man sich duzt oder siezt.

Im ursprünglichen Integrationsprozess ließen sich kulturelle Differenzen noch gut managen – sie betrafen nur eine Dimension. Doch mit einem weiteren Unternehmen steigt die Komplexität: Wer vertritt welche Kultur? Und in welche Richtung soll sich die gesamte Organisation entwickeln?

Setzt man auf Stabilität nicht aufs Spiel und zieht die Integration des zweiten Targets erst später nach, gehen aber wertvolle Chancen verloren.

Ein Beispiel: Im Rahmen der Integration wird die gesamte IT-Applikationslandschaft überprüft. Aktuell fällt es den Beteiligten schwer, sich für ein Manufacturing Execution System (MES) – dem Nachfolger des Produktionsplanungssystems – zu entscheiden. Weder die Lösung des Käufers noch die des ersten Targets ist ideal. Doch eine Entscheidung muss her, damit die Integration voranschreiten kann. Also bleibt man bei der Variante des Käufers.

Das zweite Target hingegen hat erst vor einem Jahr ein integriertes MES erfolgreich implementiert. Es verfügt über wertvolle Betriebserfahrungen und identifizierte Optimierungen. Und das alles sauber und ordentlich dokumentiert; wir erinnern uns, das waren die mit den klaren Strukturen und Hierarchien.

Hätte man diese Erfahrung frühzeitig einfließen lassen, hätte das System noch weiter verbessert und zur optimalen Lösung entwickelt werden können. Doch mit dem sequenziellen Vorgehen ersetzt die zuvor gewählte suboptimale Lösung des Käufers die eigentlich bessere Alternative. Immerhin wurde bereits viel Zeit und Geld in die Migration investiert – eine erneute Anpassung erscheint kaum realistisch.

Mehr Stabilität – auf Kosten von Geschwindigkeit und Qualität.

Die Wahl zwischen paralleler Integration – mit höherem Tempo und mehr Optionen, aber weniger Stabilität – und sequenzieller Integration ist alles andere als trivial. Und selbst wenn die Entscheidung gefallen ist, bleibt die Integration ein Drahtseilakt.

Mit Playbook parallelisieren

Eine klassische Buy-&-Build-Strategie erleichtert die Entscheidung: Ein solides Plattformunternehmen mit stabilen, effizienten Prozessen dient als Basis, um einen stark fragmentierten Markt durch Zukäufe kleinerer Unternehmen zu konsolidieren. Das Zielbild – das Target Operating Model – wird einfach vom Plattformunternehmen übernommen.

Mit einem Playbook, das die einzelnen Schritte der Integration klar definiert, lassen sich mehrere Targets parallel und ohne unnötige Risiken integrieren. Zudem können Prozesse zeitlich versetzt starten. In einem solchen Playbook sind – thematisch oder funktional gegliedert – die Ziele und die dafür erforderlichen Maßnahmen beschrieben.

Durch sorgfältige Vorbereitung oder dokumentierte Erfahrungen aus früheren Integrationen lassen sich auch Zeitrahmen, Abhängigkeiten, Prioritäten und Meilensteine festlegen. Solche Meilensteine – die sich auch gezielt für interne Kommunikation oder besondere Events nutzen lassen – sind beispielsweise ein abgeschlossenes Rebranding, der Start der Produktion oder die Gewinnung neuer Kunden.

Eines meiner persönlichen Lieblingsbeispiele ist Mister Car Wash, eine US-amerikanische Kette von Autowaschstraßen. Mister – wie sich das Unternehmen selbst liebevoll nennt – wächst nahezu ausschließlich durch die Akquisition einzelner Waschstraßen oder kleinerer Ketten. Jede Integration folgt einem einheitlichen Playbook, das vom Umbau der neuen Standorte bis zur Mitarbeiterschulung in der unternehmenseigenen Academy reicht.

Ähnliche Playbooks finden sich auch bei (Re)Openings von Hotels. Neben dem Playbook selbst stehen dort oft spezialisierte (Re)Opening-Teams bereit, um das lokale Team in der Anfangsphase zu unterstützen. Dieser Support reicht von inhaltlichen Aspekten – das (Re)Opening-Team kennt das Zielbild und das Playbook in- und auswendig – bis hin zu zusätzlichen helfenden Händen für unerwartete Herausforderungen.

Gerade ein klar strukturierter Fahrplan schafft Raum, um auf die Besonderheiten der einzelnen Targets einzugehen. Immer wieder gibt es wertvolle Best Practices, die sich für die gesamte Gruppe übernehmen lassen. Diese werden dann ausgerollt und das Playbook entsprechend aktualisiert.

Denn diese Playbooks sind nicht in Stein gemeißelt. Sie werden regelmäßig überarbeitet – nicht grundlegend umgekrempelt, aber stets um die Erfahrungen aus den letzten Integrationsprozessen ergänzt.

Ohne Playbook – einfach zuhören

Wie sieht es am anderen Ende der M&A-Skala aus? Wenn weder ein Playbook noch umfangreiche Erfahrung mit Post Merger Integration vorhanden ist? Wenn das Zielbild der neuen Organisation nicht von Beginn an feststeht, sondern erst im Prozess entwickelt wird? Kann man dann ein weiteres Target sinnvoll in den laufenden Integrationsprozess einbinden?

Klar geht das. Schließlich gibt es regelmäßige Status- oder Steering-Committee-Meetings – Termine, in denen die Ergebnisse der laufenden Integration den relevanten Stakeholdern präsentiert werden. Hier wird diskutiert, ob es in Zukunft die gelbe oder die grüne Variante sein wird. Vertreter des neuen Targets sollten frühzeitig in diese Runden eingebunden werden. Sie sind relevante Stakeholder.

Die bereits getroffenen Entscheidungen zum Zielbild werden für das neue Target zunächst nicht direkt umgesetzt – das kann in einer zweiten Phase erfolgen. Doch ihr wertvoller Input kann schon früh berücksichtigt werden. Dieses Vorgehen hat zwei große Vorteile.

Zum einen fühlt sich das neue Target von Anfang an eingebunden. Seine Erfahrung und Expertise fließen in den Prozess ein, statt ignoriert zu werden. Gleichzeitig bleibt es nicht außen vor, sondern erhält direkten Einblick, wohin sich die Organisation entwickelt. So entsteht Transparenz im Integrationsprozess.

Zum anderen gehen wichtige Impulse des neuen Targets für strategische Entscheidungen nicht verloren. Denken wir an das Beispiel von oben. Bei der Wahl eines Manufacturing Execution Systems (MES) ist man nicht länger auf zwei suboptimale Varianten beschränkt. Stattdessen bringt das neue Target möglicherweise eine überlegene Lösung mit ein – die dann in die zukünftige IT-Applikationslandschaft integriert wird.

Vielleicht ergeben sich auf diesem Weg sogar zusätzliche interne Ressourcen. Anstatt teure Interimsmanager einzusetzen, können ungenutzte Kapazitäten des neuen Targets für den Integrationsprozess genutzt werden. Das spart nicht nur Kosten, sondern schafft auch direkte Berührungspunkte, die das Zusammenwachsen der Organisationen ermöglichen.

Es gibt immer einen Day One

Auch wenn die Integration des neuen Targets zeitlich nach hinten verschoben wird – der Day One findet trotzdem statt. Er markiert den Tag nach dem Closing, an dem der Käufer die vollständige Kontrolle über das neue Target übernimmt. Und an diesem Tag erwarten die Mitarbeitenden des neuen Targets neben der Begrüßung und eloquenten Ansprache des CEOs vor allem Orientierung. (Im letzten Artikel habe ich dazu meine Erfahrungen und Gedanken geteilt.)

Unabhängig davon, ob das neue Unternehmen sofort in den laufenden Prozess eingebunden oder erst später integriert wird – dieses entscheidende Ereignis darf nicht übergangen oder nur halbherzig gestaltet werden. Es verdient die gleiche Sorgfalt in der Vorbereitung und die gleiche Ernsthaftigkeit in der Durchführung.

Die Lösung? Fast egal

Wie so oft im Leben gibt es keine perfekte Lösung – vor allem dann nicht, wenn diese Bewertung bereits im Vorfeld durchgeführt werden muss. Doch die beiden hier beschriebenen Extremfälle liefern Orientierung und Anhaltspunkte für die eigene konkrete Situation.

Viele Wege führen nach Rom – und ebenso zur neuen, schlagkräftigen integrierten Organisation. Wichtiger als die perfekte Wahl ist es, eine klare Entscheidung zu treffen und konsequent den gewählten Weg zu verfolgen. Denn wer den Start der Integration bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hinauszögert, verliert wertvolle Zeit.

Solange man dem neuen Target nicht ein Integration zweiter Klasse zugesteht, die neuen Mitarbeitenden transparent und authentisch informiert werden und sie so weit eingebunden sind, wie es die Situation zulässt – wird alles gut.

Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist die Integration noch nicht zu Ende.