Heimliche PMI-Planer
Da sind wir raus!
„Mit Verlaub, damit haben wir doch überhaupt nichts zu tun. Mit dem Signing sind wir raus aus dem Prozess.“ Diese Bemerkung erhielt ich vor einigen Wochen nach meinem Vortrag Warum M&A-Berater PMI mitdenken müssen – und zwar von einem Vertreter der Sell-Side.
Natürlich hatte ich mit dieser Reaktion gerechnet. Trotzdem saß der Schlag. „Im Haifischbecken geht es nicht unbedingt freundlich zu“, sagte später jemand zu mir. Der Titel meines Vortrags war bewusst provokativ gewählt: Warum M&A-Berater PMI mitdenken müssen. Ich hatte die Sell-Side herausgefordert – und die erwartete Reaktion erhalten.
Dass die Berater der Buy-Side die Integration und damit die Realisierung der Akquisitionsziele mitdenken sollten, darin waren sich alle einig. Aber reicht das aus? Oder wäre es vielleicht besser, einfacher und schneller, wenn auch die Sell-Side den nächsten Schritt antizipiert?
Zwei Seiten mit entgegengesetzten Interessen?
In der einen Ecke: die Sell-Side, mit einem hübsch verpackten Unternehmen, das bestmöglich verkauft werden soll. Wobei „bestmöglich“ in der Regel mit dem Preis gleichgesetzt wird. In der anderen Ecke: die Buy-Side. Sie möchte das Unternehmen erwerben, hat ihre eigenen Ziele und Vorstellungen, die sie mit dem Erwerb erreichen will. Und wir wissen alle: „Im Einkauf liegt der Segen.“ Deshalb ist die Buy-Side daran interessiert, so wenig wie möglich zu zahlen.
Aus der Vogelperspektive betrachtet, sieht eine Transaktion genau so aus: stark vereinfacht, aber dennoch realistisch.
Beim näheren Hinsehen entdeckt man jedoch zahlreiche Nebenbedingungen. Zeit ist Geld: Je schneller die Transaktion abgeschlossen wird, desto besser. Die Buy-Side kalkuliert auf Basis eines Business-Cases und leitet daraus einen maximalen Kaufpreis ab. In diesen Business-Case fließen die Risiken ein, die man in der Due Diligence entdeckt hat – und die die Sell-Side nicht entkräften konnte.
An diesem Punkt wird es spannend. Manche Risiken lassen sich durch Versicherungen abfedern, deren Prämie wiederum in den Kaufpreis einfließt. Andere Risiken werden durch nachträgliche Kaufpreisanpassungen oder Earn-out-Klauseln im Vertrag geregelt. Beides spiegelt sich letztlich in den Kaufpreiserwartungen wider.
Am Ende dreht sich Alles weiter um den Kaufpreis – jedoch auf komplexere Weise. Und um das Ganze noch komplizierter zu machen, kommt der Faktor Incentivierung ins Spiel. Ich habe bisher noch keine Transaktion gesehen, bei der die Berater der Sell-Side nicht direkt über den Kaufpreis incentiviert wurden.
„Du kommst aus dem Gefängnis frei“-Karte
Im Gegensatz zu Monopoly gibt es bei M&A-Transaktionen keine Gemeinschaftskarten, mit denen man sich aus verfahrenen Situationen befreien kann. Aber es hilft, den Blick zu weiten und eine andere Perspektive einzunehmen.
Die Buy-Side ist – wenn man einen Schritt zur Seite tritt – daran interessiert, die Ziele mit dem Unternehmen zu erreichen und den Business-Case zu maximieren. Und das funktioniert nicht nur über einen möglichst geringen Kaufpreis. Sobald man diese Perspektive einnimmt, eröffnen sich neue Optionen. Das Spannende daran: Es ergeben sich nicht nur zusätzliche Möglichkeiten für die Buy-Side, sondern auch für die Sell-Side.
Wer sich schon einmal mit Spieltheorie beschäftigt hat, kennt das Konzept aus dem Gefangenendilemma: Zwei Häftlinge sitzen eine geringe Haftstrafe ab und erhalten die Möglichkeit, durch eine Kronzeugenregelung gegeneinander auszusagen. Wenn nur einer aussagt und den anderen belastet, kommt er frei, während der andere eine lange Haftstrafe verbüßt. Sagen jedoch beide aus, gilt die Kronzeugenregelung nicht, und beide erhalten die höhere Strafe.
Das Drama von Tosca
In beeindruckendem musikalischem und historischem Kontext hat Puccini eine solche Situation in seiner Oper Tosca eingebaut. Um Euch nicht zu sehr auf die Folter zu spannen, verzichte ich auf die Vorgeschichte und historische Einordnung.
In der entscheidenden Szene stehen sich die beiden Protagonisten Scarpia und Tosca gegenüber. Tosca möchte ihren geliebten Cavaradossi retten, der von Scarpia zum Tode durch Erschießen verurteilt wurde. Scarpia willigt ein, Platzpatronen anstelle scharfer Munition für die Hinrichtung einzusetzen – unter der Bedingung, dass Tosca den Abend mit ihm verbringt.
In der Spieltheorie sagt man, wenn beide kooperieren, erreichen sie jeweils ihr Ziel, müssen jedoch eine Gegenleistung erbringen. Scarpia hätte die Möglichkeit, den Abend mit Tosca zu verbringen, würde jedoch auf die Genugtuung verzichten, seinen Rivalen Cavaradossi aus dem Weg zu räumen. Tosca hingegen könnte ihren geliebten Cavaradossi unversehrt zurückgewinnen, müsste dafür aber Scarpia für einen Abend ertragen.
Am Ende des zweiten Aktes zeigt sich die Kurzsichtigkeit beider Figuren. Scarpia befiehlt nicht, die Patronen auszutauschen. Tosca wiederum nutzt die Gelegenheit zu Beginn des gemeinsamen Abends und stößt Scarpia ein Messer in die Brust.
Beide versuchen, die Situation zu ihrem eigenen Vorteil aus ihrer eigenen Perspektive zu optimieren. Sie ignorieren dabei, dass der jeweils andere eine eigene Perspektive hat und eigenständig entscheidet, wie er die Optionen bewertet. Ohne die Kooperation zahlen zwar beide für sich den geringeren Einsatz, erhalten aber auch beide nicht die erhoffte „Belohnung“.
Das gibt es doch nur im Märchen, oder?
So dramatisch und zugespitzt wie in der Oper begegnen uns solche Situationen im echten Leben selten. Dennoch habe ich ähnliche Verhaltensweisen immer wieder bei M&A-Transaktionen erlebt. Zum Glück hat dabei noch niemand das Leben verloren – Geld jedoch schon, und das nicht zu wenig.
Vor einigen Jahren wurde einer Einheit von Entwicklern, die im Rahmen eines Carve-outs aus einem größeren Unternehmen herausgelöst werden sollte, verkauft. Kooperation hätte bedeutet, dass die Sell-Side mehr Transparenz über die Kompetenzen der Mitarbeiter*innen gewährt und der Käufer schon vor dem Closing mit ihnen kommunizieren darf.
So hätte der Käufer die Chance gehabt, mehr der Entwickler vom Wechsel in das Target überzeugen zu können. Im Gegenzug wäre er bereit gewesen, einen höheren Preis zu zahlen. Mehr Transparenz hätte das Risiko für die Buy-Side reduziert und den Business-Case erheblich verbessert.
Leider spielten beide Seiten eher Tosca und Scarpia. Die Geschichte ging nicht glorreich aus – aber sie liefert einen eindrucksvolles Intro für viele meiner Vorträge: die Geschichte von Martin.
Ein alternatives Ende
Wie könnte es anders laufen? Schließlich hat die Sell-Side nach dem Signing – und spätestens nach dem Closing – keinen Einfluss mehr auf das Target, also das verkaufte Unternehmen. Dies war auch der zentrale Punkt in unserer Diskussion vor einigen Wochen.
Meine Gedanken und meine Sichtweise kann ich niemandem aufzwingen. Aber ich kann sie anderen zur Verfügung stellen und so die Möglichkeit schaffen, neue Perspektiven zu eröffnen. Genauso, wie ich es in meinem Vortrag getan habe, könnte auch die Sell-Side einen Perspektivwechsel bei der Buy-Side anregen.
Nehmen wir einmal an, die Buy-Side plant keine umfangreiche Integration. Der Business-Case enthält in diesem Szenario hohe Risikoabschläge und lange Zeiträume bis zum Erreichen eines stabilen, eingeschwungenen Zustands. Warum sollte die Sell-Side in diesem Fall nicht vorschlagen, durch eine aktivere Integration die Risiken zu minimieren und die Implementierungszeit zu verkürzen?
Ein solches Vorgehen hätte klare Vorteile: Ein aktiveres Management der Integration würde den Business-Case der Buy-Side stärken, den Wert des Targets erhöhen und damit auch einen höheren Kaufpreis ermöglichen. Natürlich müsste die Sell-Side dafür etwas opfern, zum Beispiel durch mehr Transparenz über den Zustand des Targets. Eine gemeinsame Session zum Integrations-Setup könnte ein erster Schritt sein. Dabei könnten nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen offengelegt werden, die noch vor dem Closing adressiert werden könnten.
Solche Prozesse verlaufen in der Regel Schritt für Schritt – oder, wie man sagt, „Zug um Zug“. Beide Seiten geben etwas, und beide profitieren davon. Durch kontinuierliche Kooperation und den gegenseitigen Vertrauensaufbau schaffen sie eine Grundlage für den gemeinsamen Erfolg.
Bevor der Vorhang fällt
Unsere Welt wird immer vielfältiger und bunter, damit aber auch komplexer. Die Nachhaltigkeit einer M&A-Transaktion zeigt sich nicht beim Signing, sondern erst Jahre später.
Es ist zu kurz gedacht, einfach der Buy-Side den Schwarzen Peter für die Integration zuzuschieben. Dies führt zurück zu einer eindimensionalen Bewertung der Handlungsoptionen, wie sie Tosca und Scarpia in ihrer Kurzsichtigkeit an den Tag legten.
Für erfolgreiche M&A-Transaktionen braucht es Weitsicht. Es lohnt sich, einige Schritte weiterzudenken, mehrere Jahre in die Zukunft zu blicken und die Perspektive zu wechseln. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die andere Seite ebenfalls eigene Ziele und Bewertungen hat.
Kooperation ist der Schlüssel, um das gemeinsame Optimum zu erreichen. Es hilft, den nächsten Schritt schon vorab zu antizipieren. Bei M&A-Transaktionen bedeutet dies: die Integration des Targets in den Blick zu nehmen – auch wenn die Umsetzung letztlich bei der Buy-Side liegt.
Vielleicht ist genau deshalb die „Du kommst aus dem Gefängnis frei“-Karte keine individuelle, sondern eine Gemeinschaftskarte.